Samstag, 16. September 2023

An jeder Station eine andere Meinung, während verführerisch die Steaks duften

Da war diese Entscheidung am Anfang. Gehe ich der Duftfahne vom Steakhouse hinterher oder biege ich doch ins Sportstudio ab? Ich konnte den inneren Schweinehund überwinden und kehrte tatsächlich ins Sportstudio ein. Ich plumpste nach dem Umziehen auf den ersten Sitz und drückte diese verklemmten Stangen zusammen, bis eine dominante Stimme aus dem Lautsprecher mich aufforderte. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Meine Gedanken enthemmten sich. Single sein, ist gar nicht so schlecht. Ich kann mir den Tag freier gestalten und wieder shoppen, ohne dass gleich jemand meckert. Am Abend allein sein, ist die schwierigste Phase, aber ich habe eine Menge Freundinnen, mit denen ich abends telefoniere. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Gut, dass ich meine Arbeit habe. Der Alltagstrott hilft mir beim Bewältigen des Liebeskummers. Gestern erst habe ich ein Buch über Trauer bei Trennungen gelesen. Danach ging es mir aber schlechter. Ich glaube, ich werde das Buch verschenken. Am besten jemanden, den ich nicht leiden kann. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Singles sollen ja nicht so lange leben, habe ich mal irgendwo gelesen. Das ist auch nur Quatsch. Ich kenne auch Paare, die sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Dann doch lieber allein sein. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Die Trainerin hat mich vorhin gefragt, wie es mir geht. Was soll ich da antworten? Beschissen wäre ehrlich, aber die Wahrheit will sie bestimmt nicht wissen. Dann würde sie nicht mehr so grinsen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie Leute den ganzen Tag rumgrinsen können. Einmal am Tag muss man doch mindestens schlechte Laune haben, oder? „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Eigentlich bin ich hier, um meinen Bauch weg zu trainieren. Der war mit den Wechseljahren einfach so dazu gekommen. Fünfzehn Kilo hatte ich auf einmal mehr. Ich habe sie nicht bestellt. Und ich esse so wie immer. Noch weniger essen kann ich mir einfach nicht vorstellen. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Die Trainerin hatte mir letzte Woche einen Ordner in die Hand gedrückt. Wenn ich abnehmen möchte, sollte ich diesem Ernährungskonzept folgen. Strichlisten soll ich für jedes Essen machen. Einen Strich für jede Kartoffel, jedes Stück Brot usw. Da macht einem das Essen doch gar keinen Spaß mehr, immerzu Strichlisten. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Letzte Woche haben wir einen Check-up gemacht. Ich habe immerhin ein Kilo abgenommen. Das heißt, dass noch 14 Kilo fehlen. 14 Kilo ist 'ne Menge. Stimmt, ich nehme ja noch diese Tabletten. Wenn die nicht wären, hätte ich wahrscheinlich nicht so stark zugenommen. Aber die Tabletten kann ich noch nicht absetzen. Es ist ein Teufelskreislauf. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Oh, nein, jetzt weht wieder diese Duftfahne vom Steakhouse, das gleich neben dem Sportstudio ist, verführerisch herein. Wie soll ich denn da ruhig und konzentriert meine Übungen machen? Ich denke wieder an die Strichlisten, aber auch an ein schönes saftiges Steak. In Gedanken beiße ich in ein Steak. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Was mein Ex-Mann wohl gerade macht? Ich scheuche den Gedanken fort, da ich spontan schlechte Laune bekomme. Es geht doch noch mehr als beschissen. Vor allem, wenn ich an seine jüngere Frau denke. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Gut, dass sie im Sportstudio Musik spielen. Das lenkt ein bisschen ab. Und es hat den Vorteil, man macht die Übungen im Takt. Ich versuche es zumindest. Diese Übung mache ich total gerne. Ich mache einen Kick auf dem Stepper, einen Schritt zurück und dann noch einen Wiegeschritt und erneut einen Kick. Dann kommt der Seitenwechsel. Es ist ein wenig wie tanzen. Ich war schon lange nicht mehr tanzen. „Bitte wechseln Sie jetzt die Station!“ Ich reiße mich aus meinem Sitz und stürme in die Umkleidekabine. Ich renne aus dem Sportstudio, vorbei an einer Trainerin, der die Kinnlade nach unten klappt. Endlich weiß ich, was ich tun werde. Na, wissen Sie es auch? Richtig, meinem Ex-Mann gehörig die Meinung geigen und dann mit meinen Freundinnen eine heftige Tanzsession abhalten. „Bitte wechseln Sie jetzt Ihre Meinung!“ schwirrt mir durch den Kopf. Aber vorher noch ein Steak.

Mittwoch, 10. Mai 2023

Veröffentlichung des Eco- und Hopepunk-Romans "Selected_" als eBook und Taschenbuch

Liebe Leser:innen, ich würde mich sehr freuen, Euch als Leser:innen, vielleicht sogar als Fans meiner Dystopie "Selected_" zu gewinnen. "Selected_" ist der erste Band der Trilogie "Die Clay Saga", d.h. die Geschichte wird weitergehen. :-) Kurz zum Inhalt: Im Jahr 2077 ist die Welt geprägt von Klimawandel und Androiden mit Künstlicher Intelligenz, die in der Politik, den Behörden und in den Schulen dominant agieren. Ainsley Amber besucht die Stanislaw-Lem-Schule, zusammen mit ihrer besten Freundin Sage. Vor Jahren hat sie ihren Vater verloren, da stirbt ihre Mutter Selma vor ihren Augen im Krankenhaus, weil ein Schwester-Roboter einen entscheidenden Fehler macht. Ainsley flieht zu Sage, doch die Behörde für Familiäre Angelegenheiten macht sie ausfindig und setzt ihr den neuesten Androiden-Prototypen Mom13 vor die Nase. Ainsley kommt mit der Situation überhaupt nicht klar und die Maschinen-Mensch-Beziehung eskaliert.
Wünsche Euch viel Spaß beim Lesen, Eure Kristin

Mittwoch, 8. März 2023

Ach so (Neues von Jan Giebken, dem Kommissar aus "Leise kriselt der Schnee" (Digital Publishers))

Seine buschartigen Augenbrauen hoben und senkten sich und dann hoben und senkten sie sich noch einmal. Bevor ich es vergesse, sie hoben und senkten sich ein drittes Mal. Erst dann sprach er. Er sagte nur zwei Wörtlein. „Ach so.“ Das war alles. Aber es reichte, um zu wissen, dass Inspektor Jan Giebken, ein lockiger, brünetter Anfangdreißiger, seine Gehirnzellen dermaßen in Schwung gebracht hatte, dass sie rotierten und vor lauter Schwindel und Glücksgefühlen so viel Aktivität besaßen, um zu schlussfolgern, dass er eine grobe Ahnung hatte. Er hatte eine grobe Ahnung, wer um 19.17 Uhr und 34 Sekunden das Bürogebäude nicht verlassen hatte. Giebken hatte seinen Wintermantel trotz minus zehn Grad Celsius zuhause an einem Garderobenhaken, der aussah wie ein an die Wand genagelter Damenschuh hängen gelassen. Er hielt sich für einen Meister im Autogenen Training. Er murmelte vor sich her. „Arme ganz warm, Hände ganz warm, Oberkörper ganz warm.“ Aber nicht nur für ihn wirkten diese Mantras, auch seine Assistentin Cordula, genannt Meierchen, begann zu schwitzen. „Jan, könntest du nicht mal für ein paar Minuten aufhören mit dem Gemurmel, während wir den Tatort untersuchen?“ Cordula blickte auf die leblose Gestalt, die sich auf dem Bürostuhl zusammengefaltet hatte. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Giebken war es pudelwarm, aber Meierchen zitterte wie Espenlaub. Die beiden warteten, wie so oft. Und sie warteten. Meine Güte! Und dann haben sie noch einmal gewartet. Endlich schlurfte Dieter, der Forensiker um die Ecke. Und er ließ sich Zeit beim Gehen. Aber zum Glück beherrschte Giebken das Autogene Training und wiederholte immer wieder: „Ich bin ruhig, ganz ruhig.“ Dieter zog als erstes am Haarschopf des weiblichen Opfers und ließ unsanft den Kopf auf die Tischplatte knallen. Sein trockener Kommentar: „Is' jetzt eh wurscht.“ Meierchens Augen weiteten sich vor Entsetzen, aber sie begann sich nervös die Fingernägel zu lackieren, weil Dieter bekanntermaßen in schneckenhafter Geschwindigkeit arbeitete. Als nächstes zog Dieter an den Händen des Büro-Opfers. Er deutete auf die Fingernägel. „Giebken, die sind abgekaut.“ Giebken befand sich gerade wieder in einem Mantra, hörte dennoch zu. Er nickte reflexartig. „Ach so.“ Giebken überlegte, was das heißen könnte. Dann endlich erwischte ihn der Geistesblitz wie ein überfälliges Taxi an der Bushaltestelle. „Dieter, diese Frau war nervös bis zum Abwinken, stimmt's?“ Dieter nickte auch. Ihm fiel sonst nichts ein und deswegen schwieg er. Plötzlich sah Giebken das Buch, das neben der Leblosen lag. Der Umschlag war lila und hellgrün. Er hob es hoch und sagte: „Ach so.“ Der Titel sagte ihm was und Meierchen beobachtete, wie auch Dieter angestrengt nachdachte. Giebken murmelte: „'Das Tabu' ist kein alltäglicher Titel. Das könnte ein Hinweis sein, was Dieter?“ Dieter brummte. Er brummte immer, wenn er anderer Meinung war. Mit dem zweiten Brummen überwand sich Dieter zu antworten. „Jan, glaubst du an Todesfälle durch Brechen eines Tabus?“ Meierchen lackierte sich weiter hektisch die Fingernägel und hörte gleichzeitig aufmerksam zu, als Giebken entgegnete: „Dieter, hast du denn ein Tabu?“ Dieter grinste. „Ja, aber ich sage es dir nicht.“ Giebken zog eine Fläppe. „Ach menno, Dieter.“ Dieter sah zu Meierchen und sagte dann ganz breit: „Also gut, Jan. Mein Tabu ist Rauchen.“ Giebken konnte nicht anders. Ihm rutschte ein „Ach so“ heraus. Dieter warf ein. „Ach ja, was ist denn daran so komisch?“ Giebken sah auf das Opfer. „Was könnte sie für ein Tabu gehabt haben?“ Dieter kratzte sich am Kinn. „Ich habe keine Ahnung.“ Meierchen seufzte. „Mal wieder typisch Dieter.“ Dieter wurde knallrot und sah aus, als würde er gleich explodieren. „Meierchen, immerhin habe ich den Bahnunfall aufgeklärt.“ Meierchen seufzte erneut. „Dieter, das war kein Wunder, weil es ein Unfall war. Aber die restlichen Fälle in deinen zwanzig Dienstjahren blieben unaufgeklärt.“ Dieter war entrüstet. „Na und, Meierchen. So bin ich halt. Aber vielleicht werde ich hier und heute diesen Fall aufklären.“ Giebken murmelte wieder: „Ich bin ruhig, ganz ruhig.“ Meierchen schloss das Fenster. „Also, Dieter, vielleicht ist ja dieses Buch schuld?“ Dieter wiegte seinen Kopf hin und her, Giebken tat es ihm nach. Giebken fand als erstes seine Worte wieder: „Die Idee ist gar nicht so übel, Meierchen.“ Meierchen rollte die Augen. Dieter bekräftigte Giebkens Aussage: „Ein Buch als Mordwaffe. Wie genial.“ Meierchen lief zum Büro-Opfer und zeigte auf die Frau. „Es könnte aber auch sein, dass sie ein Opfer ihrer Überstunden ist.“ Meierchen regte sich auf. „Was denn nun? Tod durch Tabu oder Tod durch Überstunden?“ Giebken hob und senkte seine buschartigen Augenbrauen. „Ja, wenn wir das wüssten, wären wir alle schon zuhause, was Dieter?“ Dieter kratzte sich ungelenkt am Kinn und meinte: „Jan, wir könnten ja abstimmen.“ Giebken warf ein. „Dieter, wenn du mir voher Tod durch Tabu erklären könntest, ja, sonst nein.“ Dieter holte aus. „In Ländern wie Afrika gibt es das Ritual, dass Neugeborene ein Tabu erhalten. Sie dürfen zum Beispiel keine Bananen essen, sonst würden sie sterben. Und die Macht der Gedanken ist so stark, dass sie, wenn sie aus Versehen eine Banane essen, auch wirklich sterben können.“ Giebken schaute zur leblosen Gestalt. „Dieter, ich habe null Ahnung, was für ein Tabu diese Frau gehabt haben könnte.“ Dieter blickte vorwurfsvoll zu Giebken. „Jan, das ist doch ganz einfach. Wir denken uns ein passendes Tabu aus.“ Meierchen dachte über Dieters Tabu nach. „Dieter, wenn du jetzt eine Zigarette rauchen würdest, könntest du sterben? Von nur einer Zigarette?“ Dieter nickte. „Wenn ich daran glaube, dann schon.“ Meierchen räusperte sich. „Also, wenn du ganz viele und über Jahre rauchen würdest, könnte ich mir das vorstellen.“ Dieter kratzte sich schon wieder am Kinn. „Dann ist das kein Tabu, Meierchen.“ Giebken sagte „Ach so.“ Zu dritt starrten sie auf das Opfer und konnten sich keinen Reim darauf machen, was wirklich geschehen war. Dieter sah fragend in die Runde. „Und, wollen wir noch abstimmen?“ Meierchen seufzte. „Warum?“ Giebkens buschartigen Augenbrauen hoben und senkten sich in epischem Ausmaß. Dieter resignierte dank der Antriebslosigkeit seiner Kollegen. „Wieder ein ungelöster Fall, Jan.“ Giebken entgegnete. „Und was machen wir jetzt, Dieter?“ Dieter kratzte sich mit dem Mittelfinger am Kinn. „Dem Notarzt Bescheid geben.“ Meierchen verstand die Welt nicht mehr. „Wieso das denn, Dieter?“ Dieter grinste. „Das Opfer atmet noch.“ Und tatsächlich hob das Büro-Opfer den Kopf und beschwerte sich, dass Dieter ihm so brutal den Kopf auf den Tisch hatte knallen lassen. Das Büro-Opfer erklärte den dreien, dass gestern um 4 Uhr morgens die Deadline für den letzten Datentransport ins Entwicklungssystem war. Angesichts des mangelnden Schlafes war das Opfer mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen. Giebken rutschte ein „Ach so“ heraus und dann dackelten die drei ab. Das Opfer hörte noch, wie Giebken leise vor sich hin murmelte.

Mein Autoren-Ballettröckchen kneift - eine Anekdote von Frau G.

Ich bin in Elternzeit. Und das nun zum dritten Mal. Misses Knutschknödel ist der blondgelockte, jüngste und frechste Spross unseres Familienclans und fast drei Lenze alt. Bisher war ich bei einem namhaften Softwareunternehmen im Süden Deutschlands arbeiten und habe Softwaredokumentation in allen Größen und Farben in liebevoller Handarbeit gefertigt. Aber ich habe einen Traum. Ich will Autorin werden, und das möglichst während der Elternzeit. Etlicher Schweiß ist schon in zahlreiche Manuskripte geflossen und so warte ich nun täglich auf DEN Anruf. Ich warte auf den Anruf vom Verlag. Übrigens, ich heiße Gerlinde Gans, kurz Frau G. Und mein Motto ist: Gans oder gar nicht. Mein Göttergatte ist nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen, selbst dann nicht, wenn der Bankberater Herr Saft wegen der Dispo-Überziehung anruft. Für Herrn Saft bin ich übrigens die Hausfrau. Das hat er beim letzten Beratungsgespräch mal wieder zum Besten gegeben. Angeblich gibt es keinen Eintrag im Auswahlmenü, der Elternzeit heißt. Herr Saft versucht, da ich drei Kinder habe, verzweifelt seit einigen Monaten mir eine Riester-Rente aufzuschwätzen, aber es gelingt ihm nicht. Inzwischen haben wir Oktober. Wie immer waren wir in den Herbstferien verreist. Natürlich mit der Bahn, weil nur da die Kinder freien Auslauf während der Fahrt haben. Wir kommen müde und erschöpft aus Brüssel zurück, als mir unser Nachbar Herr Brauner einen Stapel Briefe in die Hand drückt. Er hält sich eine Hand vor. „Frau G., Sie hatten einen supergeilen Katalog in Ihrer Post, darf ich ihn mir ausleihen?“ Ich grüble, während sich der cäsarische Unterkiefer meines Göttergatten bedrohlich nach vorne schiebt. Übrigens, dieser Unterkiefer hatte neulich echte Bewunderung von der Kieferorthopädin unseres neunjährigen Juniors erheischt. Unbekümmert sage ich Herrn Brauner:„Ich schenke Ihnen den Katalog.“ Er grinst wie einst der Breitmaulfrosch im Delfin-2-Sprachstandsfeststellungs-Fragekatalog. „Danke“, sagt Herr Brauner und schließt leise die Tür hinter sich. Wieder in der eigenen Bude, durchwühle ich den Briefstapel. Oh! Fette Mahngebühren über zehn Euro, weil ich einen anderen Brief ignoriert hätte. Moment. Ich eile zu meinem Rucksack, schnappe den alten, gammligen nach im-Rucksack-vergessenen-Lachsbrötchen muffelnden Brief und reiße ihn auf. Tatsächlich, eine Rechnung. Da klingelt das Telefon. Der Anrufbeantworter ist schneller. Eine weibliche Stimme spricht aufs Band. Da fällt es mir wieder ein. Bevor wir nach Brüssel gefahren sind, habe ich fünf Manuskripte verschickt. Ich eile ins Arbeitszimmer und drücke erwartungsvoll auf den Wiedergabeknopf. Oh, nein, schon wieder kein Anruf von einem Verlag. Die Dame ist vom hiesigen Stromanbieter. Man droht uns, den Strom auszustellen. Ich bekomme Kornkreise wie bei Bauer Huber auf dem Feld in den Augen, als ich den Betrag trotz stagnierenden Blutdruckes im Brief entziffere. Die Typen wollen exakt 2.477 Euro und 23 Cent. Ich fühle, wie die Erholung von einer Woche Urlaub innerhalb von Sekunden verpufft. Die Dame auf dem Anrufbeantworter sagt, man hätte schon abgebucht und unsere Bank hätte gesagt, dass es ab sofort keine Kontobewegungen mehr gäbe. Wie aus weiter Ferne höre ich das Klingeln an der Haustür. Ich eile nach unten. Schon wieder Herr Brauner. Mein Mann winkt ihn herein. Ich wedele mit dem Brief. „Kennen Sie sich mit Nachzahlungen aus, Herr Brauner?“ Er nickt und keine zwei Minuten später stehen er und mein Göttergatte vor dem allwissenden Stromschaltkasten im Keller. Schritt für Schritt gehen sie alle Kabel durch. Bis eines übrig bleibt. Sie verfolgen die Spur des Kabels, quer durch den Flur, durch zehn Vorratskeller und landen schließlich in der gemeinsamen Waschküche. Herr Brauner wird blass. „Ich glaube, ihr zahlt Strom für ALLE Waschmaschinen.“ Herr Brauner, auch Hausmeister unseres Mehrfamilienhauses schlussfolgert scharf. „Drei Mietparteien haben vor zwei Monaten gewechselt, von Single zu mehrköpfigen Familien.“ Er kratzt sich am Kinn und meint trocken: “Die neue Familie im Erdgeschoss hat fünf Kinder, die im zweiten Stock drei und die dritte hat sieben Verwandte seit Monaten zu Besuch.“ Herr Brauner schreibt mit Bleistift auf die Wand der Waschküche. „Das wären elf Erwachsene und acht Kinder. Für die habt ihr die Stromrechnung bekommen.“ Ich sehe wahrlich düstere Wolken am Schwanensee. Und ich habe kein dekoratives Ballettröckchen mehr. „Und nun?“, blicke ich meinen Göttergatten fragend an. Herr Brauner schraubt tatkräftig die Sicherungen raus. „Anrufen.“ Wir werden Zeuge, wie unser Nachbar mit seiner radiomoderatorengleichen Stimme beim Stromanbieter für uns anruft. Die Dame vom Callcenter steht zum Glück drauf. Um kurz nach sieben klingelt bei uns ein verschlafener Latzhosen-Handwerker. Mein Göttergatte erklärt und erklärt. Aber der Handwerker schüttelt immer wieder nur den Kopf und gähnt herzhaft. „Da kann ich nichts machen.“ Herr Brauner eilt als seelischer Beistand hinzu. Geheimnisvoll hält er etwas hinter seinem Rücken fest. “Meine Frau sagt, sie hätte jemand im Katalog erkannt.“ Er drückt mir den Katalog in die Hand. Als dem schon wieder gähnenden Handwerker beim Betrachten des Kataloges der Unterkiefer stehen bleibt, drücke ich ihm den Dessouskatalog aufgeschlagen in die Hand. Seine Augäpfel rotieren. „Sind Sie das?“ Jetzt ist mir nichts mehr peinlich. „Ja, glauben Sie als Autorin braucht man keine lukrativen Nebenjobs?“ Mein Göttergatte schaut wissend, Herr Brauner blickt zusammen mit dem Handwerker anerkennend. „Autorin ist anscheinend ein interessanter Beruf“, meint schließlich Herr Brauner. Ich beiße auf meiner Unterlippe herum. Ich habe mich entschieden. Ich frage den lüsternen Handwerker, der nun hellwach aus der frechen Latzhose blickt und deute dabei auf die Abbildung. „Würden Sie denn die Sache regeln, wenn ich...?“ Mein Göttergatte ist wie vom Donner gerührt. Ich flüstere ihm zu. „Denk dran, es geht um exakt 2.477 Euro und 23 Cent.“ Aber in den heutigen Zeiten muss man sehen, wo man bleibt, vor allem als Autorin. Fünf Minuten später stehen wir alle vor dem Stromkabelkasten. Der Handwerker knipst freudestrahlend das dubiose Kabel zu den Anzapfern durch. Der schlaue Herr Brauner greift nach den unbeaufsichtigten Bierdosen. Ich seufze, Männer sind doch Kinder. Oh, da fliegt tatsächlich die Mahnung der Stromrechnung, zerrissen in feinste Schnipsel, von dem kooperativen Handwerker. „Wer will noch ein Bier?“ frage ich in edlem Schwarzspitzen-BH mit löchrig feinem Tanga-Slip und wedle mit einer gekühlten Bierdose. Freudestrahlend nimmt mein Göttergatte sie entgegen. Ich wusste doch, dass mir dieser Nebenjob mal nützlich sein wird.

Der überforderte Froschkönig

In zahlreichen Zeitschriften liest man heutzutage von überforderten Menschen. Egal, ob man in Zeitschriften im Wartezimmer beim Kieferorthopäden blättert oder bei der Zahnärztin oder auf die soeben bestellte Pizza wartet. Die Zeitschriften sind voll davon, aber nicht nur Menschen können überfordert sein. Es stimmt, ich sitze viel herum, vielleicht ein bisschen zu viel. Wovon ich träume? Von einem Kuss, von einem leidenschaftlichen Kuss mit viel Honigsüße. Das ist lächerlich? Das finde ich überhaupt nicht. Ich bin froh, dass ich noch Träume habe. Denn, was ich durchmache, geht auf keine Kuhhaut. Ja, ich stehe auf tierische Ausdrücke, aber dazu später. Heute ist ein Dienstag. Dienstage sind prinzipiell meine Glückstage, das habe ich mir so ausgedacht. Ja, ich bin erfinderisch. Meine Fantasie ist lebhaft. Zum Glück,sagt meine Oma. Naja, die muss es wissen. Ich bin bei meiner Oma aufgewachsen. Oh, Mann, ich schweife ab. Die Story erzähle ich ein anderes Mal. Also die Geschichte, die ich heute erzähle, beginnt gerade eben - an einem Dienstag, genauer gesagt an einem Dienstagvormittag. Ich sitze im Hyde Park auf einer Bank und beobachte neidisch die Pärchen, die an mir vorüberziehen. Es ist Januar und ganz schön kalt. Zum Glück habe ich meinen dicken Wollpulli an, den hat mir meine Oma passsend gestrickt. Es ist so kalt, dass mein Atem weiße Wolken in der Luft hinterlässt. Warum ich hier im Hyde Park sitze, auf einer kalten Parkbank? Also, das hat den Grund, dass ich auf jemanden warte, den ich knutschen kann. Das ist aber wahr. Was würden Sie denn machen, wenn Sie der Froschkönig wären? Zuhause fernsehen? Sehen Sie, im Park rummlaufen und schauen, ob jemand knutschen will. Übrigens, Oma hat sich mit ihrem neuesten Strick-Kunstwerk sehr viel Mühe gemacht. Es wird langsam Zeit, dass ich unter Dach und Fach komme, hat sie gesagt. Die gefürchtete Zeitbombe tickt sozusagen, auch bei einem Froschkönig. Ein Froschkönig, der in die Jahre gekommen ist, muss schauen, dass sich endlich jemand überwinden kann, ihn zu knutschen. Das ist nicht einfach, wenn man 50 ist und einen schon die ersten Zipperlein plagen. Ich bin nun Froschkönig in der siebten Generation. Unsere adlige Linie hat Tradition in England, so wie die Royals in London. Also, bevor William sich die Kate geschnappt hatte, habe ich es bei ihr probiert. Aber William ist einfach, sagen wir mal, schneller gewesen. Außerdem hatte er den Vorteil, schon ein Mensch zu sein. Und ich will ja Mensch werden. Unbedingt. Mit einem außergewöhnlich eleganten Hüpfer mit Salto schwinge ich mich auf die Lehne der Parkbank, um Überblick zu bekommen. Frauen ziehen erstaunt an mir vorbei. Eine ist brünett, die andere blond. Ich schürze die Lippen, aber nichts passiert. Sie sind nur neugierig. Überblick zu haben, ist wichtig, sagt meine Oma, vor allem, wenn man so klein ist wie ich. Ich bin nur zehn Zentimeter hoch. Okay, wenn ich mich strecke, sind es stolze 35 Zentimeter. Aber zehn Zentimeter Sitzhöhe ist wirklich nicht viel, um aufzufallen. Wenn ich doch wenigstens reden könnte. Ich kann nur quaken. Sobald eine Frau auftaucht, quake ich, wohl ein wenig zu erbärmlich, denn eine Frau verdreht die Augen, die andere lächelt und eine dritte lacht mich aus. Es ist ein hartes Schicksal, ein Froschkönig zu sein. Doch halt, einem Wesen bin ich aufgefallen, einem Eichhörnchen. Ausgerechnet ein Eichhörnchen? Es stürmt auf mich zu. He, stopp, stopp, halt. Ich will doch nicht zum Eichhörnchen werden. Also hüpfe ich schnellstens von der Lehne herunter und flüchte in extraweiten Sprüngen, doch das Eichhörnchen ist verdammt schnell. Schließlich holt es mich ein. Es weiß sofort, was los ist. Es legt keck seinen Kopf in den Nacken. „Na, immer noch ein Frosch?“ Na, toll, voll in die Wunde rein. Ich quake schüchtern ein „Ja“. Es kichert. „Ich hätte da eine Idee.“ Es kommt gefährlich näher und spitzt die Lippen. Ich hüpfe spontan drei Hüpfer nach hinten, bis ich die Gitterstäbe von einem Zaun spüre. Mein Herz pocht mir bis zu meinem Hals. Das Eichhörnchen pirscht sich an mich ran. Seine scharfen Nagezähne blitzen. Ich bin starr vor Schreck. Was würde Oma sagen, wenn ich als Eichhörnchen nach Hause kommen würde? Das Eichhörnchen lächelt geheimnisvoll. „Ich bin eine Frau, kleiner Frosch.“ Mir klebt die lange Zunge am Gaumen und ich zittere am ganzen Froschleib. Auf einmal sehe ich die Borsten von einem Besen. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Er fegt das Eichhörnchen einfach weg. Mit einem wohlwollenden Lächeln streckt er seine Hand nach mir aus, sodass ich darauf hüpfen kann. Er lacht, als er meinen schicken Wollpulli sieht. Sieht man halt nicht alle Tage. Vor allem dieses freche Muster. „Kiss me“ hat Oma mir kreativ eingestrickt. Das ist doch lieb von ihr, oder? Oh, nein, was macht der Parkwächter? So schnell kann ich gar nicht reagieren. Er spitzt ultraschnell die Lippen und gibt mir den fettesten Knutscher aller Zeiten, und zwar ein leidenschaftlicher Kuss mit Honigsüße. Oh, nein. Ich wollte doch eine Menschenfrau zum Knutschen. Es macht „PUFF“ und „PENG“ und dann stehe ich vor dem Parkwächter. He, so schlecht sieht er gar nicht aus. So ein bisschen wie George Michael. Naja, was soll's. Drei-Tage-Bar, sanfte rehbraune Augen. Außerdem hat er mich vor dem Eichhörnchen gerettet. Zum Glück hat mein Pulli bei der Vergrößerung mitgemacht. Aber ich habe nichts außer dem Pulli an und das mitten im Januar im Hyde Park. Wie soll das nur enden? Ich bin ein soeben gewordener Mensch oder ein überforderter Froschkönig bei minus 16 Grad. Der Parkwächter ist schon schnuckelig, na denn.

Donnerstag, 17. November 2022

Das rote Spiegelbild

(in Anlehnung an das Original: „Das Geheimnis des Rothe-Bachs bei Paderborn“ im Buch „Sagen und Legenden des Paderborner Landes“ von Therese Pöhler) Julius beobachtete den hellblauen Himmel, der am Horizont orangegelb eingefärbt war. Er war müde, so müde, dass er kaum noch einen Schritt vor den anderen setzen konnte. Die ganze Nacht war er wach gewesen und hatte darüber nachgedacht. Er liebte Felicitas und wie sie ihre langen, blonden Haare vor Freude schüttelte, wenn er ihr von einer Neuigkeit berichtet hatte. Ein Blick in ihre hellblauen Augen ähnelte dem sehnsuchtsvollen Schauen in den morgendlichen Himmel und dem Warten auf einen Tag, der nur Gutes bringen würde. Niedergeschlagen stapfte er den Weg weiter, der ihn zum Rothebach führte. Er erinnerte sich an eine Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte und die hatte es von ihrer Mutter und die wiederum von ihrer. Worum es darin ging, spukte schon seit Tagen in seinem schweren Kopf umher. Es ließ ihn nicht mehr los. Erschöpft in Geist und Körper setzte er sich auf eine Wiese mit grünen Pflanzen, die sich an den Wiesenboden wie eine Geliebte schmiegten, und deren doldenförmigen, fliederfarbenen Blüten ihm sehr gefielen. Er begann, dem plätschernden Geräusch des Rothebaches zu lauschen. Das wiederkehrende, beruhigende Rieseln des Baches kam ihm vor, als ob eine beruhigende Stimme aus alten Zeiten zu ihm sprach und ihm helfen wollte. Julius schloss die Augen und atmete tief ein. Der zugleich erdige und erfrischende Duft von Wasserminze durchströmte ihn. Seine Gedanken schweiften ab und fanden sich in jenem Loch wieder, das ihn hierher in die Stadtheide geführt hatte. Der Vater von Felicitas wollte nicht, dass Julius sie heiratete. Er verhinderte es mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Julius‘ bester Kumpel Finn trug ihm sogar zu, dass Felicitas‘ Vater behauptete, dass Julius noch eine Freundin hätte. Deswegen gab es gestern einen Riesenstreit zwischen Julius und Felicitas. Sie glaubte dem Gerücht, dass er ein Verhältnis mit einer Kollegin hätte und sie machte Schluss. Es traf ihn tief, aber der Tag war noch nicht zu Ende, als er erfuhr, dass Felicitas einen neuen Freund hatte. Es war merkwürdigerweise Finn und er verstand überhaupt nichts mehr. Sein Herz war vom Schmerz der Trennung durchzogen. Er öffnete wieder die Augen und sah zu dem Rothebach, der von hohen, breiten, westfälischen Eichen und stillen, in sich gekrümmten Kopfweiden umrahmt war und ihm wie eine Schutzmauer erschienen. Wenn er doch nur eine Lösung für seinen Liebeskummer hätte. Eine schwere Last lag auf seiner Brust und umklammerte ihn so fest, als würde ein Eisenring ihn beengen. Eine Träne rann seine Wange herunter und tropfte auf eine Wasserminzenpflanze. Der erdig-frische Duft stieg ihm in die Nase und er holte nach einigem Zögern sein Tagebuch heraus. Es war in hellbraunem Leder gebunden und zeigte bereits von seinen Fingern speckige Spuren, da er in letzter Zeit öfters das Bedürfnis hatte, seine Gedanken festzuhalten. Julius schlug das Buch auf und stellte mit Erstaunen fest, dass er bereits auf der letzten Seite angekommen war. Sein letzter Eintrag war, dass er sich an das Versprechen erinnern wollte. Inzwischen war die Sonne weiter aufgegangen und erste Sonnenstrahlen streiften sein Gesicht. Schnellentschlossen erhob er sich und das Buch fiel aus seinem Schoß in die Wiese. Er hatte einen Plan und nichts würde ihn aufhalten. In Felicitas‘ Augen sah er eine Mischung aus Überraschung und Abneigung. Sie stand in ihrem Morgenmantel vor ihm. Riesige Mohnblumen, die ihren begehrenswerten Körper bedeckten. „Was willst du hier?“ Julius hielt das Tagebuch in der Hand und sah ihr fest in die Augen. „Dich an das Versprechen erinnern.“ Im Hintergrund hörte er eine männliche Stimme und hatte spontan ein ungutes Gefühl. Felicitas‘ Vater erschien hinter ihr und funkelte Julius erbost an. „Willst Du es noch von mir hören?“ Julius ballte die Fäuste. „Sagen Sie es mir, damit ich es weiß.“ Die hohe Stirn des Vaters bildete viele runzlige Falten, als dieser antwortete. „Finn ist der ideale Mann für meine Prinzessin.“ Julius war bereit in den Kampf zu ziehen und holte eine Erinnerung aus seinem Gedächtnis. „Haben Sie schon von den Heidealten gehört und von der Heilkraft des Rothebachs?“ Der Vater winkte abwertend ab. „Was für ein blödes Zeug faselst du da? Ich sage dir jetzt klar und deutlich, dass du Felicitas in Ruhe lassen sollst. Das ist alles.“ Julius gab nicht auf. „Warum ist Finn ideal?“ Mit den Händen in den Hosentaschen antwortete er Julius. „Also, gut, wenn du es unbedingt wissen willst. Finn hat mehr auf der Joppe und keine Flicken auf der Buchse.“ Julius kochte innerlich. „Wenn ich mehr hätte, dürfte ich Felicitas heiraten?“ Ihr Vater lachte schallend. „So ist es, Pattjackel.“ Julius hatte es mit einem der stursten Westfalen in der Stadt zu tun und es kostete ihm totale Beherrschung nicht ausfallend zu werden, doch er dachte an seine Zukunft und in dieser Vision würde auch Felicitas‘ Vater eine Rolle spielen. Er musste den Ball flach halten, auch wenn es ihm verdammt schwerfiel. Mit einem Grummeln im Magen erwiderte er seinem vielleicht zukünftigen Schwiegervater. „Herr Wiesenkemper, ich habe ihrer Tochter ein Versprechen gegeben, auch wenn ich es gebrochen habe, so werde ich einen Weg finden, es einzulösen.“ In den Augen von Felicitas‘ Vater sah er Belustigung und Verwunderung, als dieser ihm entgegnete. „Finn wird sie glücklich machen. Das ist mein letztes Wort.“ Julius sah zu Felicitas hinüber, die die ganze Zeit schweigend dabeistand. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich will eigentlich nur meine Ruhe, wenn ihr mich fragt.“ Julius trat einen raschen Schritt auf Felicitas zu und griff nach ihrer Hand. „Ich bin ein Kind aus der Stadtheide und denen fällt immer etwas ein.“ Leicht genervt blickte sie Julius an. „Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, aber bitte schön.“ Felicitas‘ Vater sah streng auf die Hand von Julius, die immer noch ihre Hand hielt. Julius ließ los und sah ihrem Vater direkt in die Augen. „Sie werden sehen, Herr Wiesenkemper. Ich bin nicht so ein Schlot wie Sie denken.“ Julius machte auf dem Absatz kehrt und blickte nicht noch ein Mal zurück. In seinen Sinnen schwebte eine Vorstellung, wie seine Zukunft aussehen könnte. Wenn er genauer darüber nachdachte, war es mehr als eine Vorstellung. Er glaubte daran, dass es sich so erfüllen würde. In seinem Blick war wilde Entschlossenheit für seine Liebe zu Felicitas zu kämpfen, egal wie hoch der Preis war. Julius wusste, wohin er gehen musste, als er vor diesem kleinen Holzhaus, das direkt an dem Rothebach stand, anklopfte. Eine alte Frau mit weißen Haaren, die zu einem Dutt hochgesteckt waren, und einem schlichten Kleid mit kleinem Blümchenmuster öffnete die verwitterte, wohl ehemals dunkelbraune Holztür. „Sie wünschen?“ Julius war frohen Mutes, da er die Legende kannte und sein Herz die Antwort ihm nicht nur vorschlug, sondern er fühlte sie. „Meine Mutter meinte, dass man Sie fragen könnte, wenn einem eine tiefe Traurigkeit erfasst.“ Die alte Dame kicherte heiser. „Eine weise Frau, Ihre Frau Mutter. Kommen Sie rein.“ Die alte Dame schwang die Tür weiter auf und gab ihm ein Zeichen, hereinzutreten. Mit vorsichtigen Schritten ging Julius in das niedrige Häuschen. Er hatte das Gefühl, jeden Moment an der Zimmerdecke anzustoßen und so ging er leicht gebückt. Die alte Dame lief in ein schlicht eingerichtetes Wohnzimmer. Ein Sofa in einem Grauton, der sowohl Alter also auch Edles darstellte, stand nahe am Fenster. Es war mit pinkfarbenen Häckeldeckchen auf den Armlehnen dekoriert. Die Füße des Sofas waren von herabhängenden Fransen in einem helleren Grauton verdeckt. Julius entdeckte bei genauerem Hinsehen einen Katzenkopf, der die Fransen leicht zum Bewegen brachte. Auf einem dunkelbraunen, runden Holztisch lag ein weißes Häckeldeckchen und stand eine Duftlampe, die einen beruhigenden Wohlgeruch im Raum verbreitete. Der Minzgeruch stieg ihm angenehm in die Nase und verursachte ein Gefühl, daheim zu sein. Angekommen zu sein. An einem Ort zu sein, an dem ihm geholfen werden würde. Die alte Dame nahm auf einem der beiden dunkelbraunen und edlen Holzstühle Platz und wies mit ihrer Hand auf den freien Stuhl. „Nehmen Sie Platz, junger Mann. Wie heißen Sie?“ Julius plumpste auf den Stuhl, der ein knarzendes Geräusch von sich gab. „Julius Appelboom.“ Ihre grauen Augenbrauen hoben sich leicht. „Und was führt Sie zu mir?“ Julius’ Herz war erfüllt mit einer Schwere wie Blei und der erste Satz, der über seine Lippen kam, stolperte. Dann folgte der zweite, der dritte und immer mehr, bis die alte Dame alles wusste, was sie zu wissen brauchte. Ihr Lächeln war gütig. „Sie wissen, dass ich eine Heidealte bin, stimmt das?“ Julius nickte stumm. Sie lächelte milde. „Man sagt mir nach, dass ich eine Heilhand habe, um Gebrochenes zu festigen und dass ich einen Heilmund habe, um einen guten Rat zu geben.“ Julius fühlte Beklemmung, aber trotzdem fragte er. „Was hat es mit dem Spiegelbild in dem Rothebach auf sich?“ Die alte Dame lachte. „Das wollen Sie wissen? Deswegen sind Sie hier?“ Julius nickte erneut stumm und lauschte der Erklärung der Heidealten aufmerksam. Er merkte sich jedes ihrer Worte, während er in ihre hellen, strahlend blauen Augen blickte. Julius sah zur Sonne hinauf, die am azurblauen Himmel leuchtete und er spürte den Hauch des Wiesenwindes in seinem Gesicht und in den Haaren. Die Sonne wanderte heute anscheinend besonders schnell. Sein Zeitgefühl war von dem Liebeskummer getrübt. Er wollte heute noch alles erledigen, aber er wusste nicht, ob er es auch wirklich schaffen würde. Die Heidealte machte ihm Mut und sprach ihm gut zu, als sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. Ihre Hand war warm. Das spürte er durch das Sweatshirt hindurch. Ein wenig fand er es gruselig, aber andererseits war Wärme positiv, denn Wärme, die vom Herzen ausging und über eine Hand ausstrahlte, konnte heilen, dachte er. In seiner rechten Hand hielt er sein Tagebuch, aufgeschlagen in der Mitte. Er las die Stelle mehrmals. Er konnte sie am Schluss auswendig. Julius lief den Weg entlang und zur kleinen Brücke, die über den Rothebach führte. Die dunkelstämmigen Eichen waren geschmückt mit vollem Blattwerk und die Kopfweiden schienen sich vor ihm zu verneigen, da er nun endlich den Entschluss gefasst hatte, sich Hilfe aus den Kräften der Natur zu holen. Er lief den kleinen Trampelpfad entlang, den anscheinend am Bach spielende Kinder nutzten, da die Grashalme niedergetreten waren und kleine Holzboote aus Rinde und einem Segel-Eichenblatt, aufgespießt auf einem winzigen Ästlein, verstreut herumlagen. Seine Gedanken wirbelten umher, so wie das fließende klare Wasser des Rothebachs. Er erinnerte sich an das, was die Heidealte ihm geraten hatte. Sobald das Wasser sich rot färbte, sollte er seine Hand, mit der er damals das Versprechen gegeben hatte, eintauchen und dann auf die guten Mächte des Rothebachs vertrauen. Nervös näherte er sich dem Bach. Das Wasser war sehr niedrig. An manchen Stellen sah er größere Steine im Rothebach liegen. Das Plätschern verstärkte seine Anspannung. Mit langsamen Schritten lief er ans matschige Ufer und ging in die Hocke und verlagerte sein Gewicht auf das rechte Knie. Er konzentrierte sich auf die Frage, die ihn umtrieb. Er beugte sich über die sich kräuselnde Wasseroberfläche und blinzelte. Er dachte an das Versprechen, das er Felicitas gegeben hatte. Intensiv spürte er ein leichtes Kribbeln in seinen Händen und wie die Heidealte es vorausgesagt hatte, konnte er tatsächlich sein Gesicht auf der unruhigen Wasseroberfläche erkennen. Es war durchdrungen von den schnellen Bewegungen des Wassers, aber klar und deutlich war es wie sein Spiegelbild, das er morgens im Badezimmerspiegel erblickte. Eine Welle der Erleichterung ging durch seinen Geist, aber gleichzeitig durchströmte ihn Hitze, da er nicht wusste, wie der Rothebach auf seine Frage, die ihn so stark bewegte, reagieren würde. Täuschte er sich oder sah er nun wirklich rötliche Wellen, die sich auf ihn zubewegten? Die Heidealte sprach von den Ockergründen, durch die sich der Rothebach entlangschlängelte, und daher solche Wellen auslösen konnte. Er hielt den Atem an, als eine rötliche Welle sein gespiegeltes Gesicht erreichte und ihn in Schamesröte zeigte. Jetzt musst er es tun. Das sagte jedenfalls die alte Dame. Er streckte seine rechte Hand, mit er damals das Versprechen gegeben hatte, zögernd aus und tauchte sie in sein vom Rothebach errötetes Spiegelbild. Eine heftige Gefühlswelle durchfuhr ihn. Es war, wie die Heidealte es vorausgesagt hatte. Eine Erkenntnis traf ihn. Hart. Sofort. Unwiederbringlich. Gestärkt von den Sonnenstrahlen, die Julius noch durch das dichte Blätterwerk der Bäume mitten im Juli erwischten, ging er mit federnden, leichten Schritten den Trampelpfad zurück, vorbei an den kleinen Spielzeugbooten. Er nahm eines und lief schnell zurück. Dann setzte er das Bootchen auf dem Wasser auf und sah, wie es unter der Brücke verschwand und immer weiter schwamm, seinem Ziel entgegen. Dieser Gedanke ermunterte ihn, mit voller Kraft und dem wieder erlangten Glauben an seine Ehre, sich dem Widerwillen seiner Mitmenschen zu stellen und ihnen zu zeigen, was es heißt, ein Versprechen ernst zu nehmen. Er lief den Weg durch den Wiesengrund zurück und kam an den immergrünen Wacholdersträuchern vorbei. Er pflückte ein paar Beeren und steckte sie in den Mund. Sie waren so sauer, dass er den Mund verzog und es ihn leicht schüttelte. Er spuckte sie aber nicht aus. So war das Leben, dachte er. Es schmeckte manchmal unverhofft ganz schön sauer, aber man konnte sich damit arrangieren, wenn man an seine Kraft glaubte. Es war schon dunkel, als Julius immer wieder auf den silbernen Klingelknopf drückte, bis schließlich die Tür aufging. Finn stand vor ihm und gähnte. Julius starrte in den offenen Mund, in dem die Zähne blank lagen. Die Zähne sind ein Symbol für Stärke, dachte er. Finn wollte damit Macht demonstrieren, anscheinend. Julius überwand sich die Frage zu stellen, die ihn schwer beschäftigte. „Liebst du Felicitas?“ Finn, der im weißen T-Shirt und hellgrauer, schlabbriger Jogginghose vor ihm stand, knickte leicht ein, so als hätte ihn ein Faustschlag mitten in den Bauch getroffen. „Julius, was ist das für eine Frage?“ Finn schaute auf seine Armbanduhr. „Schon mal auf die Uhr geschaut, Alter?“ Julius musste am Ball bleiben. Es ging um viel zu viel, um sich mit solchen Sprüchen abspeisen zu lassen. Er näherte sich Finn einen Schritt, indem er sich auf die erste der drei Treppenstufen vor dem Hauseingang stellte. „Ich gehe nicht ohne Antwort.“ Finn sah mit einem Schlag besorgt aus. „Dir ist es ernst, was?“ Julius nickte und erhielt dann seine Antwort. Die Sonne ging in dem strahlendsten Orange auf, das Julius kannte. Das Blau des Himmels war so intensiv wie noch nie, als er die Flugzeughalle betrat. Er eilte zu dem Hubschrauber und der Hubschrauberpilot öffnete ihm die Tür zum Beifahrersitz. Julius spürte sein Herz klopfen. In seinen verschwitzten Händen hielt er einen Blumenstrauß. Der Pilot sah ihn mit sorgenvoller Miene an. „Es ist schon ein wenig außergewöhnlich, finden Sie nicht auch?“ Julius lächelte unsicher. „Die Sache ist es wert. Sie werden sehen.“ Der Hubschrauberpilot warf einen Blick hinter die Sitze. Ein ganzes Meer an Rosen in Rot und Weiß. Julius wollte auffallen, um jeden Preis. Lange genug hatte er sich vor Felicitas‘ Vater versteckt. Ihr Vater war furchteinflößend, aber er war nur voller Misstrauen und in erster Linie besorgt um das Wohl seiner Tochter. Das war die Erkenntnis, die er hatte, als er seine rechte Hand in das rote Spiegelbild auf der Wasseroberfläche des Rothebachs getaucht hatte. Dieses plötzliche Einfühlungsvermögen hatte es ihm ermöglicht, kreativ mit dieser Situation umzugehen und er war höchst erstaunt, als sein bester Kumpel Finn ihm berichtete, dass er von den Heiratsplänen, die Felicitas‘ Vater mit ihm hatte, sehr genervt war. Felicitas war hübsch, keine Frage. Sie war auch begehrenswert. Das stand auf keinen Fall zur Debatte. Aber sie war auch die Freundin seines besten Kumpels. Julius war erleichtert, als er diese Worte seines Freunds Finn vernahm. Er umarmte ihn und drückte ihn an sich. Es war, als ob der leichte und unbeschwerte Wind, der im Wiesengrund des Rothebachs wehte, ihn innerlich erfüllte. Es war eine riesige Erleichterung, aus dem Mund seines Freundes zu hören, dass er doch niemals ihm Felicitas wegschnappen würde. Er wäre doch ein Ehrenmann. Und Julius schnaufte schwer bei diesen Worten seines Kumpels. Seine verloren geglaubte Ehre war anscheinend zurück, so wie die Heidealte es vorausgesagt hatte. Der Hubschrauberpilot schaltete den Motor des Hubschraubers ein und das laute Geräusch der Rotorenblätter vermischte sich mit den nervösen Gedanken von Julius, was wohl Felicitas dazu sagen würde. Der Hubschrauber schwebte ungewöhnlich sanft in der Luft und flog Richtung Sonne, direkt in Julius‘ Zukunft. Er hielt immer noch den Strauß mit sieben roten Rosen in seinen Händen, als der Pilot ihm ein Zeichen gab. „Herr Appelboom, wir sind gleich da. Da unten, sehen Sie?“ Julius sah das Haus, das wie Spielzeug auf ihn wirkte. Aufgeregt blickte er zu der Strickleiter, die hinter ihm lag. Gleich würde er auffallen, und zwar so richtig. Julius klammerte sich an der Strickleiter fest. Er blickte unruhig nach oben, aber der Hubschrauberpilot hob den Daumen. Dann dirigierte er den Hubschrauber immer näher an das Haus von Felicitas. Es dauerte keine Minute und Julius sah Felicitas wie einen Gummiball auf und ab hüpfen. Julius sah zum Piloten und gab ihm ein Zeichen. In diesem Moment drückte dieser einen Knopf und es regnete Rosen. Und die Rosen fielen auf eine fröhliche Felicitas hernieder. Sie drehte sich im Kreis, wie ein kleines Kind, dem schwindelig werden wollte. Der Pilot gab Julius ein Zeichen, dass er zum Landen ansetzen wollte. Der Erdboden näherte sich und ein flaues Gefühl ging durch Julius‘ Magen. Gleich konnte er den ersten Fuß auf die Wiese setzen. Er hatte es garantiert tausend Mal mit dem Piloten geübt, aber trotzdem klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Sein rechter Fuß berührte zuerst die Wiese, dann sprang er beherzt von der Leiter ab und lief direkt auf Felicitas, die immerzu grinste, zu. Er kniete vor ihr nieder. „Meine Liebe des Lebens, willst du meine Frau werden?“ Felicitas schaute hoch zum Hubschrauber und wieder zurück zu Julius. Sie rang mit sich. Das konnte Julius spüren. Der Moment war so romantisch. Er war geradezu perfekt, da sah er Felicitas‘ Vater aus dem Haus stürmen. Ihr Vater sah erbost aus. „Was soll dieser Zauber? Haben Sie zu viel Geld?“ Julius drückte Felicitas verlegen den Strauß in die Hand. Sie schaute angespannt, als sie ein leises „Danke“ flüsterte. Ihr Vater baute sich vor Julius auf. Er kam Julius, wie eine Mauer vor, die es zu durchbrechen galt. „Herr Wiesenkemper, ich habe ein Versprechen heute eingelöst.“ Felicitas’ Vater deutete entsetzt auf den Helikopter. „Das ist das Versprechen?“ Julius sah zu Felicitas. „Ich habe ihrer Tochter einen außergewöhnlichen Heiratsantrag versprochen.“ Ihr Vater lachte. „Das ist wirklich originell. Aber wenn Sie mich fragen, übertrieben, viel zu viel.“ Julius merkte eine große Gegenwehr in sich, aber die Kraft, die ihm das Rothewasser gegeben hatte und die Erkenntnis, mit ihrem Vater mitzufühlen, veranlasste ihn dazu, auf ihren Vater zuzuschreiten. Julius breitete die Arme aus und lief weiter. Ihr Vater hob erst zögerlich die Arme und lief dann auf Julius zu. Julius legte beide Arme um ihren Vater. „Ich werde der beste Ehemann der Welt für sie sein.“ Ihrem Vater rannen Tränen die Wangen herunter. Felicitas holte ein Taschentuch heraus und gab es ihm. Peinlich berührt und leicht errötet tupfte er seine Gefühlstränen hinweg. Er antwortete Julius leicht stockend. „Ich bin froh, dass Sie mich verstehen. Ich dachte, dass sie Ihnen viel weniger wert ist.“ Julius schüttelte energisch seinen Kopf. Ihr Vater blickte entschuldigend. „Finn kam mir um so vieles besser vor.“ Julius schnaufte. „Ich habe mit ihm geredet. Felicitas‘ Vater nickte leicht seinen Kopf. „Ich weiß, er hatte angerufen.“ Doch Julius wollte nicht mehr länger reden, er eilte zu Felicitas. Er küsste sie leidenschaftlich und sagte zu ihr: „Das ist ein Versprechen, allerliebste Felicitas. Und ich werde es nie vergessen, dank dem treuen und ehrenvollen Wasser des Rothebachs.“

Wie ein Feuer in der Wüste

Hildegard hörte das Gemecker der Leiterin vom Wohntrakt drei über den ganzen Flur. „Frau Brinstrike, keiner stapelt seine Papiere im Wandschrank außer Ihnen. Wirklich keiner.“ Hildegard dachte wieder daran, wie schön der Tag sein würde, an dem sie endlich ihren Manfredo wiedersehen würde. Diese Wiederbegegnung würde einzigartig werden, ein Ausbund an Freude. Sie sah sich in einem regenbogenfarbenen Kleid und durchsichtigen Flügeln. Ihre Haut war schimmernd hell. In ihren katzengrünen Augen spiegelte sich das Bild von Manfredo in einem regenbogenfarbenen Anzug mit Krawatte. An seinem Rücken waren goldene Flügel, weil er ein besonders guter Mensch war. Hildegard stoppte vor ihrer Tür zum Zimmer 310. Die Leiterin, gekleidet in dunkelblauer Hose und pinkem Pulli, wippte aufgeregt mit dem rechten Fuß. „Frau Brinstrike, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Keine Papiere im Wandschrank.“ Sie deutete zur Tür. „Es ist das reinste Chaos bei Ihnen.“ Hildegard rollte innerlich die Augen. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte um. „Ja, Frau Potthast. Ich kümmere mich darum.“ Sie huschte durch den Türspalt und zog extra laut die Tür hinter sich zu, so dass Frau Potthast zusammenzuckte. „Frau Brinstrike!“ schallte es im Flur. Aber zum Glück war die Tür zu und das Negative blieb draußen. Hildegard schlurfte in ihren grauen Filzpantoffeln zum Schrank. In ihrer rechten Hand hielt sie den Brief vom Finanzamt. Es wäre eine Unmöglichkeit, diesen Brief wegzuwerfen. Sie schob die Schranktür zur Seite und legte den aufgefalteten Brief oben auf den obersten Papierstapel, der gefährlich wackelte. Es war der Papierstapel mit dem Behördenkram. Ein Fach tiefer war der Stapel mit dem Familienkram. Er war halb so hoch. Ein Trauerspiel. Im untersten Fach war der Stapel mit den unangenehmen Angelegenheiten. Sie seufzte, aber immerhin war er der niedrigste Stapel von allen. Für ihn musste sie sich hinknien, auch in geistiger Hinsicht war es bei diesem Stapel ein sich Beugen vor dem Schicksal. Ein Klopfen an der Zimmertür ließ sie aufhorchen. „Ja?“, krächzte sie. Sie brauchte dringend einen Schluck Wasser. Schnell gleitete sie zu dem kleinen Tisch, der gegenüber von ihrem Bett stand. Es war mehr einem Krankenhausbett ähnlich war als einem Ort der Ruhe und Gelassenheit. Die Tür öffnete sich langsam, als sie hastig einen Schluck Wasser nahm. Sie hustete. Was für eine Überraschung. „Robin, schön, dass du vorbeischaust.“ Ihr Herz lachte. Robin flitzte zu ihr. Er war fast zwei Meter groß, hatte kurze brünette Haare und in seinem runden Gesicht lachten ihr zwei braune Augen entgegen. Er sah ihrem Manfredo so ähnlich, als er noch jung war. Aber die durchlöcherten Jeans und das T-Shirt mit einem unaussprechlichen Bandnamen waren ganz anders als Manfredos Kleidung. Robin umarmte Hildegard. „Oma, du brauchst Hilfe, meinte Frau Potthast. Was kann ich für dich tun?“ „Ach Robin, die verrückte Potthast will, dass ich meine Briefe wegwerfe. Aber du weißt ja, das geht nicht.“ Robin blickte zu seiner Oma, die ihre Stirn runzelte. Ihre grauen Locken umrahmten das jugendlich wirkende Gesicht. Sie trug einen grünen Rollkragenpulli und eine elegante schwarze Hose mit Bundfalten. Eine echte Perlenkette peppte ihr Outfit auf. Es klopfte erneut an der Zimmertür und Sebastian, der Pfleger, der oft gern einen Spaß machte, streckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Frau Brinstrike, alles gut bei Ihnen?“ „Aber klaro, Sebastian. Ich bin fit wie ein Turnschuh.“ Sebastian hielt einen Daumen hoch. „Vergessen Sie nicht ihre Stäpelchen.“ „Wir sind schon dabei. Aber was ich Sie noch fragen wollte, haben Sie schon wieder diese Live-Reportage von diesem Rennen geschaut. Wie hieß es gleich noch mal…?“ „Rallye Dakar, Frau Brinstrike. Rallye Dakar.“ „Wussten Sie eigentlich, dass ich früher Rennen gefahren bin?“ Sebastian schwang die Tür auf. „Was? Sie wollen mir sagen, dass sie stolze Besitzerin einer Rennfahrer-Lizenz sind?“ Robin klopfte seiner Oma auf die Schulter. „Sie sprechen mit der flottesten Oma im Heim. Es ist Tatsache.“ „Ich glaube, mein Hamster jodelt.“ Hildegard grinste. „Dass ich Sie mal zum Staunen bringe, hätte ich nie gedacht.“ Sebastian blickte ungläubig. „Ich gehe jetzt zurück ins Fernsehzimmer und male mir aus, Sie wären dabei.“ Hildegard protestierte. „Ich bin nicht mehr fit genug. Sehen Sie, wie wenig Muskeln ich habe?“ Sebastian konterte. „Das lässt sich ändern, Frau Brinstrike. Nichts ist in Stein gemeißelt.“ „Aber stellen Sie sich doch mal vor, ich im Fitness-Studio. Wäre das nicht ein komisches Bild?“ „Hat nicht ihr Mann immer gesagt, je oller, desto doller?“ Hildegard lachte. „Ja, und er meinte auch, dass ich die weltbeste Rennfahrerin gewesen bin.“ Hildegards Herz begann zu schwingen. Ein Glücksgefühl durchströmte ihren zierlichen Körper. Manfredo war stets des Lobes voll, auch wenn sie nur den dritten Platz auf dem Nürburgring errungen hatte. Seine Worte waren Balsam für ihre Seele. „Wissen Sie was, Sebastian. Melden Sie mich für nächsten Montag beim Fitness-Studio an.“ Innerlich eröffnete Hildegard einen neuen Papierstapel in ihrem Wandschrank, den für Projekte. Alle würden über einen weiteren Stapel schimpfen. Aber ein Stück weit war es ihr egal. Sie würde ihr Ding durchziehen. Also stemmte sie selbstbewusst die Arme in die Hüften und blickte stolz zu Sebastian. „Ich werde ab heute für meinen Manfredo etwas Schwung in mein Leben bringen.“ Robin beobachtete den sicheren Blick seiner Oma. Er wusste, wenn sie ein Ziel hatte, würde sie alle Hebel in Bewegung setzen, um es zu erreichen. Hildegard blinzelte Robin zu. „Robin, du bist ab heute mein Coach. Was hälst du davon?“ „Ich weiß nicht. Sollten wir nicht erst mal diese Stapel durchforsten und sehen, was weggeworfen werden kann?“ Hildegard stöhnte. „Robin, du bist jetzt 25. Du solltest dich im Kontrageben mehr üben.“ Sebastian zeigte auf die Papierstapel. „Ihr Enkel hat Recht. Aber ich habe einen Vorschlag. Sie machen sich an die Arbeit und als Belohnung melde ich Sie beim Fitness-Studio an.“ Hildegard lief energiegeladen zu Sebastian und hielt ihre rechte Hand zum Einschlagen hin. Sebastian schlug ein. „Abgemacht, Frau Brinstrike.“ Diese Nacht schlief Hildegard ruhig in ihrem monströsen Bett. Sie träumte von Manfredo, der ihr gratulierte, dass Sie ins Fitness-Studio gehen wollte. Doch Frau Potthast tauchte mitten in dem Gespräch auf und drohte Hildegard, nicht nur die Papierstapel zu kontrollieren, sondern auch was sie träumen würde. Ihr würde nichts entgehen und das sollte sie mal glauben. Alte Leute brauchen Ruhe und keine Abwechslung. Hildegard wachte erschrocken auf. Der Traum war so echt. Ihr Herz klopfte. Ihr war klar, dass ihr Unterbewusstsein ihr sagen wollte, dass Frau Potthast nichts davon erfahren sollte. Sie schwitzte bei diesem Gedanken. Morgen würde sie mit Sebastian reden. Dieser Gedanke half und sie nickte wieder ein und träumte von der Wüste und ulkigen Wüstentieren. Am nächsten Morgen schaltete Hildegard ihr Smartphone, das ein Weihnachtsgeschenk von Robin war, ein. Sie fand heraus, dass die Rallye Dakar in Saudi-Arabien stattfand, also wirklich in der Wüste, so wie im Traum. Insgesamt 7900 Kilometer müsste sie fahren. Sie bräuchte ein spezielles Auto und einen Beifahrer, der sich nebenbei mit Autos auskennt. 14 Tage dauert die Rallye Dakar. Und es gibt immer wieder Tote bei diesem Rennen. Sie schluckte und auf einmal war ihr ganz schwindelig vor ihrem eigenen Mut. Sie stand entschlossen von ihrem Stuhl auf und suchte im Flur nach Sebastian. Er saß schon wieder vor dem Fernseher und schaute Rallye Dakar. Sie tippte ihm an die Schulter. „Oh, Frau Brinstrike, schon so früh wach?“ „Wir müssen reden.“ „Oh, so ernst. Was gibt’s?“ „Ich brauche ihr Wort. Bitte schalten Sie um auf Schweigefuchs bei Frau Potthast, wenn ich zum Fitness-Studio gehe. Keine Anspielung auf die Rallye Dakar. Nichts, wirklich nichts.“ Sebastian blickte in das ernst wirkende Gesicht von Hildegard. „Okay, aber das mit der Rallye ist doch eh ein Scherz, oder?“ Hildegard verstand seinen Wink. „Ja, da haben Sie vollkommen Recht. Ich will nur fit sein. Deswegen fahren Sie mich am Montag zum Fitness-Studio.“ „Aber klaro, Brinstriken-Mädchen. Wir schaukeln das.“ Pünktlich um neun Uhr am Montag holte Sebastian Hildegard ab. Sie hatte ihre Sportklamotten in einer weißen Baumwoll-Einkaufstasche mit der Aufschrift „Einmal hin, alles drin“ gepackt. Hildegard schnaufte und ächzte, stöhnte und fluchte. Die Hanteln waren schwerer als sie sie in Erinnerung hatte. Die Geräte brachten sie an den Rand ihrer Kräfte. Aber sie hielt durch und Übung für Übung wurde sie stärker und stärker. Sebastian holte Hildegard, die mit rotem, verschwitzten Gesicht vor dem Fitness-Studio auf ihn wartete, erstaunt ab. „Frau Brinstrike, übernehmen Sie sich da nicht?“ „Nur die Harten kommen in den Garten, was?“ Sebastian lachte und brachte sie zurück ins Seniorenheim. Insgeheim bewunderte er sie. Nach drei Monaten federte ihr Gang wieder. Die schlurfenden Schritte wurden von energischen Schritten abgelöst. Ihre straffere Körperhaltung wirkte sogar auf Frau Potthast. Aber es war ein misstrauischer Blick bei Frau Potthast. Hildegard merkte diese Feinheit. Hildegard saß eines Tages beim Kaffeetrinken im Speisesaal. Sie hob die Kaffeetasse mit Leichtigkeit an. Heute würde sie es tun. Sie würde sich bei der Rallye Dakar bewerben. Heute würde sie Robin überzeugen, dass er der Beifahrer wäre. Sie fühlte sich unsicher trotz der neuen körperlichen Fitness. Robin sollte eigentlich schon längst da sein. Wo blieb er nur? In diesem Moment sah sie Robin den Flur vor dem Speisesaal entlangstapfen. Ein sportlicher Kerl. Er hatte sie nun drei Monate nicht gesehen. Würde er den Unterschied merken? Hatte sie eine Chance? Robin nahm sie in den Arm und setzte sich zu ihr an den Tisch. Er zuckte leicht zusammen. „Hi, Oma. Du hast ganz schön kräftig umarmt.“ Er beäugte sie mit schief gelegtem Kopf. Hildegard trug ein T-Shirt. „Und deine Armmuskeln sind unglaublich.“ Er fasste an einen Oberarm. Hildegard grinste stolz. „Hartes Training, mein Junge. Solltest du auch mal probieren.“ Robin blickte erstaunt. „Ich? Nein, ich bin eher der Radfahrertyp.“ Er zeigte Richtung Ausgang. „Oma, du weißt doch, dass ich gerne Mountainbike fahre.“ Hildegard nickte. „Und an Autos schraubst.“ „Oma, das ist mein Job. Wie meinst du das?“ Hildegard zwinkerte. Robin verstand und folgte ihr, als sie abrupt aufstand und Richtung Ausgang lief. Sie liefen schweigend in den Park. Erst als Hildegard auf einer einsam gelegenen Parkbank Platz nahm, redete sie wieder. „Robin, ich habe ein Projekt.“ Robin hielt inne. „Hört sich interessant an.“ „Und du kommst auch drin vor.“ „Was?“ „Pst, nicht so laut. Robin, ich möchte bei der Rallye Dakar mitmachen und ich brauche einen Beifahrer, der sich mit Autos auskennt.“ „Aber Oma.“ „Ich habe bereits meinen Kumpel Heinrich aus alten Zeiten angerufen und er meint, dass er mir ein passendes Auto organisieren und nach Saudi-Arabien bringen kann.“ Robin stand überrascht auf. „Ich verspreche dir, es wird das Abenteuer deines Lebens.“ „Genau, ein Abenteuer, aber ein Gefährliches. Wenn das Papa rauskriegt, dass wir zusammen so ein Ding drehen wollen.“ „Wir informieren ihn, wenn wir zurück sind.“ „Aber dein Seniorenheim. Ich meine, was sagen die denn dazu? Du kannst doch nicht einfach die Rallye Dakar fahren.“ „Robin, ich habe einen gut durchdachten Plan.“ „Und was ist, wenn dir was passiert? Das ist mitten in der Wüste.“ „Ich war gestern bei meinem Hausarzt und er bestätigte, dass ich fit bin.“ „Fit für Unfug?“ „Nein, fit für einen Lebenstraum. Worauf soll ich warten, Robin?“ „Ich habe Verantwortung, wenn ich dich begleite, Oma.“ „Und du hast die einmalige Chance mit mir ein unvergessliches Erlebnis zu haben.“ Hildegard beobachtete Robin haargenau. Er grübelte. Das erkannte sie daran, dass er seine Finger knetete. „Oma, lass mich darüber nachdenken.“ „Du hast eine Woche Zeit.“ Hildegard telefonierte häufig mit Heinrich. In ihrer Magengrube kribbelte die Vorfreude. Robin hatte zugesagt. Und dann war es soweit. Hildegard verließ das Seniorenheim mit ihrem großen grauen Koffer aus Kunstleder. Frau Potthast hatte sie erzählt, dass sie Urlaub machen würde, zusammen mit ihrem Enkel Robin. Sie dachte an die Flugtickets in ihrer schwarzen Handtasche. Es ging nach Dschidda. Gut, dass Manfredo ihr ein Aktiendepot hinterlassen hatte. Robin holte sie am Seniorenheim ab und mit einem Mietwagen fuhren sie zum Flughafen Frankfurt. Sie war aufgeregt, aber positiv. Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, drückte ihr Robin die Hand. „Danke, Oma. Ich glaube, das kann man nicht oft genug sagen.“ Hildegard lächelte. Mit einem Taxi fuhren sie zum Lager der ersten von zwölf Stationen der Rallye Dakar. Der Taxifahrer fragte sie, ob sie Touristen seien. Und als Hildegard ihm auf Englisch mitteilte, dass sie und Robin mitfahren würde, war er auf einmal still. Nach einer kurzen Überlegung meinte er, dass Dschidda auch Großmutter bedeuten kann. Er fügte hinzu, dass es ein gefährliches Abenteuer sei. Sie nickte. Robin schwieg. Als sie und Robin im ersten Zeltlager der Rallye Dakar eintrafen, meldeten sie sich bei der Rezeption an. Er stellte sich mit dem Namen Ismi Abdallah ibn Umar ibn Muhammed ibn Abdallah al-Halabi vor. Wegen ihrer erstaunten Gesichter schlug er vor, ihn Ismi zu nennen. Er gab ihnen ein Buch mit Instruktionen. Ihr Auto würde bereitstehen. Sie müssten nach links und wieder rechts gehen, dann würde ein Mister Heinrich Müller sie erwarten. Heinrich jubelte, als er Hildegard sah. Er umarmte sie und Robin. Stolz zeigte er auf den weißen Geländewagen. „Euer Gefährte für die nächsten 14 Tage.“ Hildegard und Robin nahmen Platz. Robin prüfte das Cockpit. „Oma, das wird eine ganz große Sache. Echt.“ Am Abend bauten sie ihre Zelte auf und übernachteten in dunkelgrünen Schlafsäcken auf blauen Isomatten. Hildegard träumte diese Nacht von einem Auto, das in das Ziel der Rallye Dakar flog. Sie kroch am nächsten Morgen um fünf Uhr aus ihrem Zelt und weckte Robin und Heinrich. Sie gähnten beide herzhaft und Hildegard trommelte sich wie Tarzan auf die Brust. „Nichts kann uns aufhalten.“ Ismi drückte ihr das Roadbook in die Hand und erklärte ihr, wie sie es auf der ersten Strecke lesen sollten. Robin nickte, innerlich war er angespannt. Der Start rückte näher. Hildegard fuhr den Geländewagen mit ihrem Namen und Robins Namen sowie der Startnummer auf der Fahrertür an die Startposition. Sie zitterte leicht. Aufregung pur. Sie drückte aufs Gaspedal und Robin gab ihr Anweisungen. Er warnte sie vor Gestein, vor Schlamm und sandigen Untergrund. Wenn sie über Gestein fuhr, setzte der Geländewagen hart wieder auf. Ein Stoß rüttelte sie in ihren Sitzen hin und her. An anderen Stellen wirbelte der Geländewagen Sand auf und vernebelte kurz die Sicht. Das ständige Hüpfen des Autos verursachte bei Hildegard ein flaues Gefühl in der Magengegend. Aber nach fünf Stunden, 33 Minuten und 17 Sekunden erreichten sie al-Wadschh. Sie waren die Küste entlang gefahren und nun sahen sie einen Tisch mit einem roten Schirm überdacht, den Kontrollpunkt. Die erste Strecke war geschafft. Sie erfuhren, dass der Erste knapp drei Stunden gebraucht hatte. Hildegard stieg aus und streckte sich. Sie hatte tierischen Muskelkater. Robin schlug vor, dass sie in den Mediencenter gingen und schaltete den Laptop ein. Er schickte seinem Vater eine E-Mail, dass alles okay sei und der Urlaub in Saudi-Arabien sensationell. Anschließend aßen sie ein Menü mit Hühnchen, Reis und Gemüse und tankten den Geländewagen für die zweite Strecke auf. Am zweiten Tag fuhren sie von al-Wadschh erst die Küste entlang und dann ins Landesinnere. 397 Kilometer waren zu bewältigen. Helikopter flogen über ihnen. Kamelherden kreuzten ihren Weg. Es war eine flache Sandstrecke, an deren Rand einzelne grüne Büschen standen. Sie hatten von Reifenschäden gehört, aber zum Glück hatte Heinrich den Reifendruck optimal eingestellt. Außerdem konnte Hildegard je nach Untergrund den Reifendruck von ihrem Cockpit aus regulieren. Der aufwirbelnde Staub machte Hildegard ein schnelles Fahren fast unmöglich. Nach gut sechs Stunden erreichten sie die Hafenstadt Neom. Der Schnellste war die Strecke in nur dreieinhalb Stunden gefahren. Hildegard und Robin fuhren am dritten Tag eine Schleife von Neom nach Neom. An der sandigen Strecke waren Gebirge, die wie aufgestapelte Steine aussahen. Sie hörten, dass ein Biker-Teilnehmer mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus geflogen wurde und dass ein Auto in Flammen aufging. Hildegard war stolz, dass sie bereits zwei Stunden nach dem ersten ins Ziel fuhr. Am Abend kontrollierten Robin und Heinrich das Auto. Sie wechselten die Stoßdämpfer aus. Eine Physiotherapeutin behandelte Hildegard. Es tat ihr ausgesprochen gut. Sie atmete tief durch und freute sich auf den nächsten Tag. Die vierte Strecke ging von Neom nach al-Ula. 672 Kilometer mitten durch Schluchten, über graustaubige Straßen, an deren Rand niedrige Laubbäume und knorrige Zäune standen. Sie brauchten sieben Stunden. Der erste hatte nur vier Stunden gebraucht. Robin sagte Hildegard, dass es vor allem aufs Durchhalten ankomme. Hildegard wollte aber schneller werden. Sie wollte es den anderen zeigen. Die fünfte Strecke führte sie von al-Ula nach Ha’il. Und trotz aller Vorkehrungen hatten sie einen Reifenschaden. Heinrich half ihnen so schnell es ging, aber sie verloren zwei Stunden dadurch. Frustriert fuhren sie nach acht Stunden zum Kontrollpunkt von Ha’il. Hildegard bemerkte die Schönheit der einzigartigen Landschaft. Ein Berg, der wie ein Elefant aussah. Es war einmalig. Eine käsegelbe Sonne stand am rostroten Himmel mit Wolkenschwaden. Später krabbelte sie müde in ihren Schlafsack. Auf der sechsten Strecke ging es von Ha’il nach Riad. Ganze 830 Kilometer waren zu bewältigen. Hildegard fühlte sich schlapp. Sie hatte schlecht geschlafen. Und so rutschte der Geländewagen über eine Sandkuppe und kippte links weg. In letzter Sekunde konnte sie ihn abfangen. Robin atmete schwer. Sie hatten verdammtes Glück gehabt. Im Zeltlager von Riad prüfte Heinrich zusammen mit Robin Öl, lockere Schrauben und die Reifen. Es war alles okay. Und alle drei waren erleichtert, weil einen Tag Pause war. Am übernächsten Tag ging es nach Wadi ad-Dawasir. Ein tragischer Tag, denn einer der Biker stürzte so schwer, dass er starb. Hildegard und Robin erfuhren es erst am Kontrollpunkt von Wadi ad-Dawasir. Robin fragte Hildegard, ob sie um jeden Preis diese Rallye durchziehen würde. Sie grübelte und nach einer langen Pause sagte sie ihm, dass es in diesem Sport immer wieder Unfälle gäbe. Robin wollte wissen, was wäre, wenn es sie treffen würde. Sie wollte darüber nicht reden. Am nächsten Tag fuhr Hildegard die achte Strecke. Robin las mechanisch die Warnhinweise aus dem Roadbook vor. Ansonsten wechselten sie kein Wort. War dies alles richtig? Das ging ihnen durch den Kopf. Die neunte Strecke nach Haradh war anstrengender als gedacht. Es gab scharfe Rechtskurven, die an überraschenden Stellen auftauchten. Hildegard fuhr die Strecke in erstaunlichen vier Stunden, mit nur einer Stunde Abstand zum ersten. Robin bemerkte die Verbesserung und lobte sie. Aber ihr schmeckte der Erfolg nicht so richtig, da sie an den toten Biker denken musste. Als sie die zehnte Strecke nach Shubaytah fuhren, überschlug sich direkt vor ihnen ein Auto, das wieder auf den Rädern landete. Ein Sandsturm erschwerte die Fahrt, aber Hildegard war nur eine halbe Stunde hinter dem ersten. Im Zeltlager, das sich in der Nähe von einem Flughafen befand, marschierten sie in eine große weiße Blechhalle, in der ihnen das Abendessen serviert wurde. Diese Nacht übernachteten sie in einem der 3-Etagen-Betten. Heinrich erzählte Hildegard, dass Saudi-Arabien ein Land ohne Flüsse und Seen sei. Hildegard träumte diese Nacht von einem ausgetrockneten Fluss. Sie war wie gerädert, als sie am nächsten Tag ins Auto stieg. Robin fragte sie, ob es ihr gut gehe. Sie meinte, so la-la. Sie dachte an die elfte Strecke zurück nach Haradh. Sie fuhr draufgängerisch. Robin ermahnte sie, doch weniger Gas zu geben. So fuhr sie eine Dünenkuppe nach oben und rasant steil nach unten. Sie musste anhalten. Robin übergab sich. Nach zehn Minuten hatte sich Robin beruhigt. Aber sie konnte nicht anders. Sie gab mehr Gas als sonst. Sie war wie im Rausch. Nur zwanzig Minuten nach dem ersten, also nach gut viereinhalb Stunden waren sie am Kontrollpunkt. Der Kontrolleur lobte Hildegard. Und am Abend wurde sie von einem Reporter interviewt. Sie wäre die interessanteste Fahrerin der Rallye Dakar. Sie fühlte sich geschmeichelt. Robin wirkte nachdenklich. Die letzte Strecke führte sie nach Qiddiya. Es war eine kurze Strecke mit nur 447 Kilometern. Der Wagen vor ihnen hatte anscheinend Probleme. Er bremste immer wieder aus. Und plötzlich blieb er stehen. Zwei ratlose Franzosen stiegen aus und berieten sich. Robin meinte, dass sie helfen sollten. Hildegard hatte ihren Fuß auf dem Gaspedal. Da fiel ihr ein Spruch von ihrem Manfredo ein. In erster Linie ist man Mensch und dann Rennfahrer. Und so kam ihr ein Gedanke, der sie eisern festhielt. Man will als Helfer bewundert werden, eher als als Gewinner. Und so stoppte Hildegard und sie kletterten aus ihrem Geländewagen und halfen. Sie schlossen Freundschaft und endlich erkannte Hildegard, was wichtiger ist als Erster zu sein. Zusammen mit ihren neuen Freunden erreichten sie als Letzte die Ziellinie. Sie feierten bis spät in die Nacht. Hildegard und Robin beobachteten den Sonnenuntergang. Sie hakte sich bei ihm unter. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich habe das nicht für mich gemacht, Robin.“ „Ich weiß.“, sagte Robin und nahm sie sanft in den Arm. Und sie fühlte sich wie ein Feuer in der Wüste.